Unter Schnee - Achte auf nichts meinetwegen
Es macht mich nervös, den Körper in einer Decke zu haben. Man kann nicht vor und zurück darin.
Unter der kratzenden Decke hervor sieht das Ende der Terrasse aus wie ein steil abfallender Berghang. Als könnte man sich in das weit geschwungene Tal stürzen, nur den Wind hören und das scharfe Zischen der Laufsohlen auf den verharschten Stellen, wo man sich weit vorlehnen muss, um das Gewicht zu halten.
Für heute haben sie Schneefall in den Nachrichten gemeldet, starken Schneefall, und die Lifte sind geschlossen. Der Himmel ist grau, undurchlässig, aber nicht von diesem diffusen Grau, das Schnee verspricht. Dann müsste sich auch der Geruch der Luft verändern. Die Luft müsste dichter werden oder graupelig, wie Evy dazu sagt. Wenn man dann noch im Wald unterwegs ist, stehen die Bäume unnatürlich still da.
Den Topf mit dem Glühwein haben wir vorsorglich drinnen gelassen. Unter der Felldecke ist es hier draußen auch so heiß genug.
»Und wenn es nun nicht schneit? Es schneit heute bestimmt nicht. Das versaut uns einen ganzen Tag!«
Evy antwortet nicht. Sie ist bis zum Hals verpackt und sieht aus, als würde sie schlafen. Sie hat so was im Gesicht, das sie dazu macht, so auszusehen. Nur die Augen machen das wieder wett, und manchmal ihre Art zu sprechen.
Aber ihr Glas ist zur Hälfte leer. Also schläft sie nicht. Vielleicht denkt sie auch an die versäumten Abfahrten, die Pisten, von denen wir nur die schwarzen nehmen, die direkt ins Tal schießen, ohne Umwege und mit eingebauten Bukkeln. Die Pisten sind lächerlich kurz, selbst die schwarze hat kaum noch Schwierigkeitsgrade, wenn man an Dreitausender gewöhnt ist. Oben muss man sich abstoßen, um überhaupt loszukommen, dann steht man da und wartet, dass was passiert, und bevor es richtig abgeht, ist man schon wieder unten. Evy stört das alles nicht. Sie fährt hierher, seit sie drei ist, und ich wette, sie wird es noch ewig tun.
»Sieht nicht so aus, als ob die heute noch mal aufmachen. Was meinst du? Wir sollten fragen, ob wir das Geld für die Wochenkarte zurückkriegen.«
Evy antwortet nicht, immerhin greift sie zu ihrem Glas. In die Decke gepackt, die ihr bis zum Kinn reicht, wirkt sie wie ihre eigene Großmutter. Als hätte die Zeit sie überholt. Sie schiebt mit dem Handschuh die Decke weg, bevor sie sich auf dem geblümten Liegestuhlstoff aufstützt und das Glas ansetzt. Sie schlürft und lässt sich zurückfallen.
»Geiler Tag! Wie im Sanatorium.«
Evy winkt nur ab. Als würde sie denken, dass Abwinken so gut ist wie eine Antwort. Aber vielleicht denkt sie wirklich so. Das Ende der Terrasse ist ungefähr zwei Meter von meinen Füßen weg, die in der Decke stecken wie im Strampler. Sie glaubt, das Abwinken würde mir reichen.
Ich versuche, mir den Ausblick vorzustellen, den man vom Ende der Terrasse aus hat; eine scharf gezackte Bergwand. Der Wind hat nur an die ungeschützten Stellen Schnee geweht, der jetzt festgefroren ist und die Bergwand noch kantiger macht. Zerklüftet. Und direkt daneben, im Schatten dieser Wand, führt die Piste abwärts. Von oben sieht es aus, als könnten die Ski bei dem Gefälle unmöglich noch Bodenhaftung haben. Aber so sieht es hier nie aus. Alles, was es hier gibt, sind niedliche Häuschen, sanfte Hügel und jede Menge Ostler. Und wenn man Pech hat, machen sie einfach die Lifte dicht.
»Wie spät ist es«, fragt Evy plötzlich. Sie hat die Augen nicht aufgemacht. Aber sie hat tatsächlich etwas gesagt. »Keine Sonne, kein Schnee. Keine Ahnung.« Der Glühwein ist lauwarm. »Aber gleich hab ich ein Problem.«
Evy brummt etwas in die Decke und schiebt den Arm mit dem Handschuh wieder darunter.
»Willst du nicht hören, was ich für ein Problem habe?« »Was hast du für ein Problem«, sagt Evy, ohne sich zu rühren.
»Du willst es gar nicht wissen. Wie kannst du nur so gottergeben sein? Kaum sagen sie was in den Nachrichten, schon glaubst du dran.« Die Decke juckt am Gesicht und an den Händen, trotz der Handschuhe, und wenn man sie abwirft, sticht sofort die Eisluft unter die Baumwolljacke.
»Es ist so klar, dass es für Wochen keinen Schnee geben kann! Der reinste Hochglanzhimmel. Wie kann man da so rumliegen!«
»Ich bin Atheistin«, sagt Evy »Und Gott und die Nachrichten sind zwei getrennte Dinge. An das eine glaubt man, und das andere muss man glauben.«
»Ahso.« Ich stülpe das Glas verkehrt herum auf den eisigen Terrassenboden. Ein Ring bildet sich, in dem der Glühweinrest rot anfriert. In der Ferne sind die Masten des Sessellifts zu sehen.
»Sie fahren nicht! Wenn sie die Entscheidung wenigstens uns überlassen würden. Statt dessen machen sie einfach dicht.«
»Der Wind ist zu stark«, sagt Evy, ohne die Augen aufzumachen. »Die Sessel würden zu sehr schwanken. Die Tatra-Leute sind dafür bekannt, dass sie bei ihren Liften auf Nummer Sicher gehen.«
»Auf Nummer Sicher? Ich würde eher sagen, ihr habt euch immer schon gern ein bisschen maßregeln lassen -« »Ihr«, sagt Evy und richtet sich auf.
Jetzt hab ich sie. Sie hasst es genauso wie ich, sie tut nur nichts. Es kommt mir vor, als hätte sie nie etwas getan, nur immer so gelegen - und ich habe ihr immer dabei zugesehen. Zwei Jahre lang. Immer den Kopf in die rechte Hand gestützt und abgewartet.
Als ich mich umdrehe, ist Evy dabei, sich auszuwickeln. Sie kommt auf Strümpfen über den eisigen Terrassenboden gehüpft.
»Guck dir mal die Äste an«, sagt sie ruhig und ohne weiter auf meine Bemerkung einzugehen. »Wenn sich nur die oberen Astspitzen bewegen, kommt ein Sturm auf, nicht wahr?« Es ist wie immer. Seit zwei Jahren gibt es diese Gespräche, das scharfe Abmessen der Gedanken, bevor sie etwas sagt, und wenn es ihr zu brenzlig wird, kommt nichts mehr, keine Reaktion. Statt dessen nickt sie nur hinüber zu dem einzigen Baum vor unserer Ferienhütte, einer dürren Kiefer, und sagt irgendwas, um mich abzulenken. Es ist ihr peinlich, wenn ich so rede, auch wenn es niemand außer uns beiden hört. Die Vermieterin wohnt in einem winzigen Zimmer im Erdgeschoss, außerdem ist sie Tschechin und stocktaub.
»Nicht wahr.«
»Es ist aber auch kalt.« Evy zieht einen Fuß an und greift nach meinem Arm. Schon an unserem ersten Treffen muss ihr irgendwas peinlich gewesen sein. Ich hatte sie achtlos in einem Schwung geschnitten, und wir waren in hohem Tempo aneinandergeprallt. Es hätte nicht sein müssen, die Piste war an dieser Stelle breit und übersichtlich. Aber statt sich aufzuregen, hatte sie eilig ihre Ski zusammengesucht und dann so was gesagt wie: Achte auf nichts wegen mir, oder so ähnlich. In ihrer leicht spöttischen Art.